Lyriklektorat

Ich lektoriere Lyrik. Dabei beurteile ich, ob das Gedicht schon zu mir spricht. Ein gutes Gedicht hat eine klare Stimme. Manchmal ist nicht auf den ersten Blick erkennbar, was es verhandelt, aber je mehr man sich dem Gedicht widmet, desto mehr sieht man, wie fein die unterschiedlichen Schichten an Sprache gearbeitet sind, wie sie gegeneinander laufen, einander unterlaufen und überlagern. Manchmal gibt ein gutes Gedicht seine Motive nicht auf den ersten Blick preis, manchmal ist alles scheinbar klar und dann bittet das Gedicht dennoch unvermutet in ein sprachliches Hinterzimmer. In einem guten Gedicht ist alles in Relation zueinander. Man sagt dann, der Text ist dicht. Und weil es Lyrik ist, wird er von seinem Rhythmus zusammengehalten oder von Rhythmen und in deren Pausen atmet das Gedicht.

Gedichte lektorieren

Wenn ich Gedichte lektoriere, setze ich zuerst bei den zentralen Motiven an. Wie stringent ziehen sie sich durch das Gedicht und wie funktioniert das Zusammenspiel mit den Perspektiven? Erlauben die unterschiedlichen Blickwinkel eine interessante Variation des Themas? Gibt es vielleicht auch Stellen im Text, die sich mir zunächst nicht erschließen? Und letztlich: Sind die einzelnen Motive über eine Art Dramaturgie miteinander verbunden?

Sprachliche Bilder und Stil des Gedichts

Anschließend widme ich mich dem Kernbereich der Lyrik, der Sprache. Wie finden die unterschiedlichen Perspektiven einen sprachlichen Ausdruck im Gedicht? Wie korrespondiert die Sprache mit den Bildern, die der Text aufruft? Gibt es schiefe Bilder? Gibt es Brüche in der Beobachtung beziehungsweise in der Wahrnehmung des lyrischen Ichs, die unbeholfen oder unrealistisch erscheinen? Wie wurde die Dramaturgie des Gedichts sprachlich umgesetzt? Welche Eigenheiten hat die Sprache des Autors und wie können diese weiter hervorgehoben werden? Gibt es Anklänge an andere Gedichte und wie können diese betont werden, so dass eine Verknüpfung zum Werk eines anderen Dichters, zu einer zentralen Idee der Literaturgeschichte oder einem gesellschaftlichen Thema entsteht?

Musikalität und Rhythmus

Bevor ich abschließend Grammatik und Rechtschreibung des Gedichts überprüfe, untersuche ich zunächst, wie es um die Musikalität des Gedichts steht. Dazu lese ich das Gedicht laut und überprüfe, an welchen Stellen ich rhythmisch noch ins Straucheln gerate. Ich überlege mir, welche Rolle sprachliche Wiederholungen und Pausen für dieses Gedicht spielen können und was ansonsten helfen könnte, um der Sprache des Gedichts mehr Geschmeidigkeit zu verleihen.

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